“Wunderkind”

Es gibt nicht nur eine Art Wunderkind. Seit je her hat es immer schon Wunderkinder gegeben, und es ist hoch interessant, sie miteinander zu vergleichen. Manche sind sehr begabt darin, auswendig zu spielen – andere hingegen können sehr gut vom Blatt spielen; wieder anderen fallen Technik, Rythmen, Akkorde oder polyphones Spiel sehr leicht. Einige spielen sehr farbig oder ausdrucksvoll, manche spielen wunderschön lyrisch, andere wiederum spielen dafür dramatischer. Es gibt Wunderkinder, die Theorie mit Leichtigkeit erlernen – manche spielen Chopin wunderbar, nicht jedoch Bach. Ausgezeichnete Rachmaninov-Interpreten können nicht unbedingt auch Mozart oder Beethoven gut spielen.

Wie man sieht, gibt es tatsächlich viele verschiedene Begabungen, die einem in die Wiege gelegt sein können. Nicht viele Menschen wissen jedoch, daß heute die meisten der oben genannten Begabungen bereits enrätselt sind. Diese Fähigkeiten sind durch die Ergebnisse aus der Gehirnforschung und der Genforschung erlernbar geworden!

Wer viel mit Wunderkindern gearbeitet hat weiß, daß ihnen oft die eine oder andere Fähigkeit fehlt – es gibt kein Wunderkind, das perfekt ist. Die Kinder müssen bereit sein, mit Bescheidenheit diese neue Perspektive zu sehen – und lernen, um ihr Talent zu erweitern. Oft erlebt man leider jedoch genau das Gegenteil: sie wehren sich, dies zu tun. Der Grund hierfür liegt jedoch lediglich darin, daß sie es gewohnt sind, hohe Fähigkeiten nicht mit Fleiß und Ausdauer zu erwerben, sondern mit Hi-Tech im Köpfchen: gewußt wie, und es funktioniert mit Leichtigkeit! Sie haben intuitiv gemerkt, daß der ihnen vorgezeigte Weg zu nichts führt – der mühevolle Weg ist tatsächlich oft ein falscher Weg! Der richtige Schlüssel muß her, um die Türe zu öffnen – mit einem falschen Schlüssel und Ausdauer macht man nur die Tür kaputt!

Diese Fähigkeiten unterrichten zu können ist nicht einfach. So hat Wei, Tsin Fu 27 Jahre gearbeitet, um diese interessanten aber sehr komplexen Methoden zu entwickeln, und um Schülern die oben genanten verschiedensten Fähigkeiten möglichst einfach und in kürzester Zeit beibringen zu können. Es geht hier um die Wissenschaft des Lernens, es sind hunderte Naturgesetze am Werk, in deren Entdeckung Wei 27 Jahre investiert hat.

Wie man etwas erreicht hat ist eigentlich viel interessater als ob man es erreicht hat – zumindest für die Lehrer, die Gehirnfunktion verstehen. Die Hauptarbeit liegt gerade darin zu entdecken, wie die Schüler ihren Fortschritt erreicht haben – also welche Gehirnregionen sie eingesetzt haben, und wie lange sie gebraucht haben.

Der nächste Schritt ist das „Warum“. Warum haben sie so lange gebraucht, oder warum haben sie das Ziel so schnell erreicht? Was war der entscheidende „Knackpunkt“, der das Verständnis ermöglicht hat? Haben sie es auf dem richtigen Wege oder über Schleichwege erreicht? Was ist hier mit „richtigen Wegen“ und „Schleichwegen“ gemeint? Welchem Zweck dient all dies? Und vor allem: ist dies gerade die Fähigkeit, welche sie jetzt erlernen sollten, und warum?

Man muß verstehen, daß jeder Schritt für verschiedene Schüler eine ganz andere Bedeutung hat –noch wichtiger ist jedoch, um den gleiches Ziel zu erreichen braucht jede Schüler aber andere Schritte und jeder Schritt muß man den verschiedene Schülern etwas anders erklären oder anders vormachen. Zu verschiedenen Zeitpunkten und in verschiedenen Situationen hat ein und der selbe Schritt eben eine ganz andere Bedeutung. Selbst um unterschiedlichen Schülern den gleichen Schritt zu ermöglichen, muß man aufgrund der verschiedenen Schüler, der verschiedenen Situationen und verschiedenen Ziele andere Worte wählen, und eine andere Art des Erklärens.

„Musizieren lernen“ ist nun eine Brücke, um die Gehirnfunktionen zu optimieren. Es ist fast eine Beleidigung, hohe Kunstwerke wie Werkzeuge zu benutzen, um etwas anderes zu erreichen – doch wir Menschen sind doch auch nicht weniger wertvolle „Kunstwerke“? Darüberhinaus stellt sich ein Bumerangeffekt ein: mit den dadurch gewonnenen hochentwickelten Händen und der wunderbaren Vernetzung der rechten und der linken Gehirnhälften sowie des Kleinhirns, des Rückenmarks und des Nervensystems hat man ja erst die Voraussetzungen geschaffen, um diese hohen Kunstwerke lernen und spielen zu können. Die ewige Überei und Klimperei ist weder nützlich noch sinnvoll.

Siehe als Beispiel, wie viele haben fleißig und ganz genau zwei oder drei Chopin Etüden gearbeitet und geübt, fehlt leider nur noch das Tempo, es fehlt aber das Tempo bis zum Lebensende! Ein langsam gespielte Etüde ist eben wie wenn man ein Porsche ein lebenlang nur mit Tempo 50 fährt. Hier „fehlt nur noch das Tempo“ heißt eigentlich leider oft „spielt mit total falsche Bewegung“! Kein Wunder hat Kim, Gi Yun (eine Schülerin Wei´s) in zwei Wochen 12 Chopin Etüden im Tempo spielen gelernt, meist wird ein einzige Etüde aber schon monat- oder jahre-lang zu üben gebraucht, evt. bis man Sehnenscheiden Entzündung hat. 10% Schüler wei´s spielen die schwerste Klavierkonzerte (Bach bis Rachmaninov, Prokofieff) mit noch unter 13 Jahre alt, und Niemand kennt das wort „Sehnenscheiden Entzündung“!

Warum muß mann denn lange üben? Klar, weil man etwas noch nicht kann. Warum kann man es denn noch nicht? Weil man etwas Falsches tut. Diese falschen Bewegungen oder falschen Denkweisen etliche oder gar hunderte Male zu wiederholen ist unnötig und grauenhaft. „Die richtigen Schlüssel zu finden“ ist der bessere Weg – nur muß man hierfür leider bereits Gehirnfunktionen studiert haben.

Ein altes chinesisches Sprichwort sagt: „Eine Eisenstange kann man in eine Nadel schleifen“ – doch ist dies aber natürlich weder gut noch effektiv! Darüberhinaus muß man sich darüber im Klaren sein, daß man für jedes Problem einen anderen Schlüssel benötigt, und daß verschiedene Menschen oft sogar für das selbe Problem verschiedene Schlüssel brauchen. Um manche Problemkomplexe lösen zu können, braucht man mehrere Schlüssel, und in der richtigen Reihenfolge – kompliziert, aber hoch interessant!

Erst wenn ein Wunderkind viele Fähigkeiten zu seinem ursprünglichen Talent hinzuerworben hat, wird es zu einem großen Genie mit geistiger und seelischer Reife werden können! Die Aufgabe der Lehrer besteht darin, diese fehlenden Fähigkeiten zu entdecken und die Kindern geschickt zu unterrichten, wie oben bereits beschrieben – dies kann jedoch nur funktionieren, wenn die richtigen Methoden angewandt werden, und zum richtigen Zeitpunkt.

Durch diese Erlebnisse bildet sich dann automatisch eine andere Lebenseinstellung, da viele Gehirnregionen angeregt und entwickelt werden: man wird analytisch, entwickelt einen Forschergeist, wird flexibel, geschickt und schnell. Man wird mutig und doch logisch in der Fantasie, man stellt zielsichere Vermutungen an, entwickelt Wachsamkeit und Neugier und ist stets offen, positiv auf neue Situationen und Probleme zu reagieren. Diese Liste ließe sich fortsetzen…

Weis jahrzentelange Erfahrungen haben gezeigt, daß es durch die heutige „Hi-Tech“ angenehmer ist, mit einem unbegabten Kind zu arbeiten, welches lernen will, als mit einem unwilligen Begabten.

Die großen Komponisten waren sehr begabt, sonst hätten sie die hoch komplizierten Werke ja nicht schreiben können, geschweigedenn die den Werken zugrunde liegenden Ideen entwickeln können. Durch das Spielen dieser Werke lernen wir die Gehirnfunktionen ihrer Komponisten kennen. Je schwieriger eine Komposition ist, desto mehr kann man davon lernen, sie zu spielen – daher sollte man sich mit den komplexen Kunstwerken beschäftigen, nicht jedoch mit wertlosen „Fingerübungen“, welche zwar die ganze Klaviatur gewaltig erklingen lassen, aus der Perspektive der Gehirnfunktionen betrachtet jedoch völlig wertlos sind.

Selbstverständlich kann man sein ganzes Leben der Aufgabe widmen, an diesen hohen Künsten zu feilen und zu arbeiten – aber monatelang oder gar jahrelang zu üben, um nur ein Stück spielen zu können ist aus heutiger Perspektive schlichtweg armselig – dieser Ansatz verfehlt das Ziel, das Potential unseres Gehirns zu nutzen. Die Komponisten haben zu ihrer Zeit viele Werke öffentlich in Konzerten oder in Salons vor großen Kennern vorgetragen – wann hatten sie denn Zeit, viel zu üben? Sie waren schon froh, überhaupt Zeit zu haben um ihre Kompositionen zu Papier zu bringen.

Ein verkannte Tatsache: es ist zwar etwas besonderes, wenn man ein sehr schweres Werk spielen kann – doch die Frage, wie lange man dafür gebraucht hat ist erst der entscheidende Punkt! An diesem Kriterium läßt sich ablesen, ob man ein großes oder ein kleines Wunderkind ist, oder überhaupt keines von beidem. Denn anhand der Zeit, die man benötigt hat, um ein Stück zu erlernen läßt sich letztenendes beweisen, ob man besondere High-Tech (sehr effiziente Denkmethoden), normale Hi-Tech (günstige Denkmethoden) oder nur Fleiss und Ausdauer (normale Denkmethoden) im Köpfchen hat. Dies ist auch der entscheidende Punkt, ob man für die nächsten Stücke wieder dermaßen viel Zeit und dermaßen viel Einsatz bringen muß, um sie spielen zu können.

Wenn man mit einer unvollständigen „Maschine“ im Köpfchen arbeitet, so sollte man nicht überrascht sein, wenn die Arbeit lange dauert, unvollendet bleibt oder gar völlig scheitert. Speziell ausgebildete Lehrer können aus dem Spiel der Schüler heraushören, was konkret fehlt – und welche Fähigkeiten noch erworben werden müßten. Dies läßt sich zwar auch in einem Labor analysieren – auf jeder Tatsatur können über 1000 verschiedene Anschläge gespielt werden, die maschinell meßbar sind. Es gibt jedoch noch sehr viel mehr unmeßbare Anschläge – schließlich gibt es keine Sinne, die feinstufiger sind als das Gehör. Dies setzt zwar einen langen Schulungsweg voraus, doch es lohnt sich – vor allem, da die hunderte Schritte hoch interessant und gleichzeitig einfach zu erreichen sind – mit High-Tech im Köpfchen!

Die Beste Weg ist der, bei welchem man nach jedem Stück stets bessere Denkmethoden dazu gewinnt – so braucht man dann immer weniger Zeit und weniger Aufwand zu investieren, um immer schwierigere Kompositionen zu erlernen.

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